Tante Anna war für viele Kids ein Segen
Wandbilder und ein Zeugnis erinnern ans Kinderheim
Wer das Verwaltungsgebäude des Wertstoffhofes in Leese betritt, blickt auf einen Zwerg mit einem Akkordeon. Er hat es sich unter einem Fliegenpilz gemütlich gemacht. Das Bild, in kräftigen Farben auf den Putz der Wand aufgetragen, befindet sich hinter der Empfangstheke. Hier, wo Bagger und Lastwagen über den Hof rollen, hätte man doch ein anderes Motiv erwartet! Britta Ronnenberg vom Vorstand der Firma Raiffeisen Agil kennt die erstaunte Reaktion der Besucher. „Nur wenige wissen, dass sich hier auf dem Gelände ein Kinderheim der Heilsarmee befand”, erklärt sie.
Von 1947 bis 1958 hatte die Heilsarmee in Leese mehrere hundert Kinder untergebracht, die in den Wirren des Zweiten Weltkriegs ihre Eltern verloren hatten. Florian Lazarevic, Leiter der Heilsarmee in Bremen, hatte dieses Gelände für den zweiten Teil seiner Benefiz-Bike-Tour von Lemgo nach Bremen gewählt. „Das ist für mich ein symbolischer Ort”, sagt er. Denn das “Kilometergeld”, das er und Prof. Adrian Riegel, Entwickler und Spender des innovativen Lastenbikes, kommt der Kinder- und Jugendarbeit der Heilsarmee zugute.
An das Kinderheim Leese erinnern aber nicht nur die Wandbilder im Wertstoffhof. Der vor kurzem verstorbene Horst Mönch hat über seine Zeit im Heim einen anschaulichen Bericht verfasst. Mönch, Jahrgang 1937, kam mit 12 Jahren in das Kinderheim. Sein Vater war vermisst, seine Mutter starb in Leese kurz nach dem Krieg.
Im Heim waren tatsächlich alle Altersgruppen untergebracht, erinnert sich Mönch. Es gab Säuglinge, Krabbelkinder und Schulkinder, die im Heim auch unterrichtet wurden. Der Alltag in Leese war für die heutigen Verhältnisse streng: „Um 6.30 Uhr wecken, Morgengebet, waschen, Zähneputzen, anziehen, Betten machen”, schreibt Mönch. Danach gab es eine Scheibe Weißbrot mit Marmelade und eine Scheibe Graubrot mit Quark oder Streichkäse. Um 9.30 Uhr begann der Schulunterricht. Mittags gab es in der Regel viel Gemüse und Brühnudeln. Die “Schmorgurken” waren bei den Kindern nicht so beliebt. Danach wurden unter Aufsicht der Schwestern die Schularbeiten gemacht. Nach dem Abendessen ging es in die Schlafräume: Kleidung wechseln, Zähne putzen und natürlich das Abendgebet.
Am Sonntag trafen sich die jungen Bewohner zum Kindergottesdienst im Essensraum. Nachmittags war Besuchszeit. Für die anderen Kids gab es Ausflüge in die Marsch oder an die Weser. Die katholischen Kinder waren hier im Norden in der Minderheit. Sie gingen zum Kommunionsunterricht nach Leese und seien, so Mönch, genauso gut wie die anderen Kinder behandelt worden.
Da das Heim von der international vernetzten Heilsarmee betreut wurde, gab es für die Kinder einige Vorteile. „Wir profitierten von Spenden aus dem Ausland, zum Beispiel Kleidung und Lebensmittel.” Mönch erinnert sich an 22 neue Fußballschuhe, welche die Jungs im Heim begeisterten.
Die Kinder waren - je nach Alter - zu verschiedenen Diensten eingeteilt. So mussten sie früh Verantwortung übernehmen: Kartoffeln schälen, Schuhe putzen, eindecken und beim Reinigen helfen. Auch im Garten, der die Küche belieferte, waren die Kids im Einsatz: Sie säten Gemüsepflanzen, bereiteten die Beete vor und fütterten die Schweine und Hühner.
Das Verhältnis zwischen den Schwestern der Heilsarmee und den Kindern war familiär und vertrauensvoll. Sie wurden als „Tante” angeredet und geduzt. Einigen älteren Bürgern aus Leese ist Tante Anna noch ein Begriff: Die liebevolle Majorin Anna Bräuning, Leiterin des Heims, war für viele Kinder ein Segen. Zu ihnen gehörte auch der mittlerweile verstorbene Günter Meier - ein großer, lauter aber auch herzlicher Tischler. Den Segensbrief zu seiner Konfirmation am 25. März 1956 begleitete ihn sein ganzes Leben. Zum Auftakt der Benefiz-Bike-Tour in Leese hat ihn Britta Ronnenberg von der Raiffeisen Agil mitgebracht. Der lange, einfühlsame Brief von Tante Anna endet mit dem Satz: “Und das Du einmal Gutes leisten möchtest und ein tüchtiger Mensch werden willst, das glaube ich zu wissen.”
Im Büro von Britta Ronnenberg hängt noch ein weiteres Wandbild. “Diese Bilder wurden offenbar von herumreisenden Künstlern gemalt, die hier im Heim das ein oder andere Mittagessen bekamen”, sagt sie. Über ihrem Konferenztisch ist das Bild einer Wiese, auf der Ziegen weiden. Dazwischen steht ein Kind im weißen Gewand, das getröstet werden möchte. Der 23. Psalm “Der Herr ist mein Hirte” kommt einem in den Sinn - viele Konfirmanden haben ihn damals auswendig lernen müssen.