Göttingen: Neue Einrichtungsleiterin an Bord

Montag, 27. Januar, 8 Uhr morgens. Im Treppenhaus des dreistöckigen, roten Klinkerbaus am Neuer Weg 1 riecht es nach frischer Farbe; Handwerker wuseln durch die Räume, hämmern, bohren, streichen und machen die Technik klar. Die ersten Zimmer sind schon eingerichtet. „Wir wollen in drei Wochen einziehen, da heißt es jetzt: Gas geben“, sagt Jeannette Wedekind und lacht. Die 57-Jährige hat erst vor kurzem die Leitung der Göttinger Wohneinrichtung der Heilsarmee übernommen. Jetzt muss sie gleich eine große Aufgabe stemmen: Nach mehr als 50 Jahren in der Untere-Masch-Straße zieht die komplette Einrichtung in die Weststadt um. Ein dringend notwendiger Schritt, denn das bisherige Gebäude ist wegen baulicher Mängel für eine Wohneinrichtung nicht mehr tauglich.
Neue Leitung mit großer Erfahrung
Zum Glück sind große Aufgaben im Bereich der Wohnungslosenhilfe nichts Neues für Jeannette Wedekind. Zuletzt hat die Göttingerin fast zehn Jahre lang die Notunterkunft der Stadt geleitet und sie maßgeblich mit aufgebaut. Trotz ihrer großen Erfahrung ist Wedekind heute aber „ziemlich aufgeregt“, wie sie offen zugibt. Der Grund: Die aktuell 13 Bewohner sowie die Mitarbeitenden der Heilsarmee-Einrichtung besuchen zum ersten Mal das neue Haus. Viele sind skeptisch, denn in der Stadt kursieren Gerüchte und Falschmeldungen, die für Verunsicherung gesorgt haben. „Ich hoffe, dass wir die Sorgen und Bedenken jetzt ausräumen können“, sagt Jeannette Wedekind. (Textfortsetzung unterhalb des Interviews)
"Ich möchte Menschen fit machen für ein selbstbestimmtes Leben"
Jeannette Wedekind (57) übernimmt die Leitung der Heilsarmee-Wohneinrichtung in Göttingen. Im Interview spricht sie über ihre langjährige Erfahrung in der Wohnungslosenhilfe und über ihre Pläne für den Neustart des Wohnheims am Neuer Weg.
Frau Wedekind, Sie haben die Notunterkunft der Stadt Göttingen aufgebaut und fast zehn Jahre lang geleitet. Was reizt Sie an Ihrer neuen Aufgabe als Leiterin einer Heilsarmee-Wohneinrichtung?
Die Notunterkunft ist sozusagen mein Baby und ich habe die Arbeit dort wirklich geliebt. Mich hat aber immer schon gestört, dass man den Menschen dort nur kurzfristig und sehr eingeschränkt helfen kann. Ich wollte nicht länger nur Leute verwalten, sondern mich näher mit ihnen beschäftigen und mit ihnen gemeinsam den besten Weg für sie finden. Diese Möglichkeit sehe ich bei meiner neuen Aufgabe und ich freue mich riesig darauf. Das Thema Notunterkunft wird mich dabei weiter begleiten: Im neuen Heilsarmee-Haus am Neuer Weg wird es bis zu 15 Notschlafplätze geben, drei davon für Frauen. Das freut mich ganz besonders, denn das Angebot für wohnungslose Frauen ist in Göttingen leider sehr klein.
Welche Schwerpunkte werden Sie bei der Arbeit setzen?
Der Schwerpunkt wird ganz klar darauf liegen, die Stärken unserer Bewohner in den Blick zu nehmen und sie für ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu ertüchtigen. Dafür werden wir einen gut strukturierten Rahmen schaffen, in dem die Bewohner großes Mitspracherecht und viele Freiräume, aber auch Aufgaben und Pflichten haben. Das Haus am Neuer Weg ist für diesen Ansatz sehr gut geeignet: Unsere Bewohner leben hier in kleinen WGs zusammen, können ihren Alltag innerhalb ihrer Wohnung weitgehend selbstständig organisieren und haben ihr eigenes Zimmer als Rückzugsraum. Gleichzeitig sind sie aber in die gemeinsamen Abläufe und Aktivitäten der Einrichtung eingebunden und bekommen hier professionelle Unterstützung. Ziel ist es, dass die Bewohner Schritt für Schritt immer selbständiger werden und erleben, was sie eigentlich alles können; wie wertvoll und einzigartig sie sind. Auf der Grundlage ist dann irgendwann vielleicht sogar wieder ein ganz oder größtenteils eigenständiges Leben möglich.
Können Sie schon etwas über Ihre langfristigen Pläne sagen?
Ich möchte die Situation wohnungsloser Menschen in Göttingen insgesamt verbessern und dazu auch eng mit anderen Trägern zusammenarbeiten. Ein besseres Angebot für wohnungslose Frauen liegt mir besonders am Herzen. Dass wir bei der Heilsarmee jetzt drei Notschlafplätze für Frauen anbieten können, ist schon mal ein Fortschritt, reicht aber bei weitem nicht aus. Und dann ist da noch das Thema Krankenwohnungen, von denen es in Göttingen keine gibt. Das bedeutet: Wohnungslose Menschen landen nach einem Krankenhausaufenthalt sofort wieder auf der Straße. Auch daran möchte ich gern etwas ändern. Das ist aber alles Zukunftsmusik. Jetzt geht es darum, die Heilsarmee am Neuer Weg gut neu aufzustellen und den Bewohnern ein stabiles und motivierendes Umfeld zu bieten. Das wird einige Zeit dauern – und ich freue mich sehr darauf.
Gute Bedingungen für Bewohner und Team
Martina Oehne und Peter Daberkow, die in der Küche und an der Pforte der Einrichtung arbeiten, haben bei der Besichtigung besonders auf das Arbeitsumfeld geachtet. Ihr Fazit: „Eine Riesenverbesserung zum alten Gebäude. Alles ist neu und praktisch eingerichtet, das wird die Arbeit sehr erleichtern.“ Daberkow gefällt besonders die positive Ausstrahlung der Räume: „Die haben Wohlfühlcharakter“, sagt er. „Hier werden sich auch neue Leute in Zukunft richtig willkommen fühlen.“ Oft sind das Menschen, die dringend eine Unterkunft für ein oder zwei Nächte brauchen. Für sie stehen in freundlichen Räumen im Erd- und Untergeschoss insgesamt 15 Notschlafplätze zur Verfügung, drei davon für Frauen.
Die Männer, die länger in der Einrichtung leben, werden sich insgesamt sechs Zwei- und Dreizimmerwohnungen im Haus teilen. „Sie sind wie WGs organisiert“, erklärt Jeannette Wedekind. „Jeder hat ein eigenes Zimmer, Bad und Küche werden geteilt.“ Apropos Küche: Die Heilsarmee bietet im Haus weiterhin Vollverpflegung für alle Bewohner an; die gemeinsamen Mahlzeiten werden im großen Speise- und Aufenthaltsraum eingenommen. „Jede Wohnung hat aber auch eine eigene Küche, in der die Männer selbst etwas zubereiten können“, sagt Wedekind. „Dadurch sind sie unabhängiger, können auch mal etwas essen, das nicht auf unserem Speiseplan steht und so ganz nebenbei für ein eigenständiges Leben trainieren.“
Menschen fit machen fürs Leben
Eigenständig und unabhängig – diese Begriffe tauchen immer wieder auf, wenn Jeannette Wedekind über die Bewohner spricht. Das ist kein Zufall. „Ich möchte die Männer ertüchtigen und sie dabei unterstützen, ein möglichst selbständiges Leben zu führen“, sagt sie. „Vermutlich wird nicht jeder wieder ganz auf eigenen Füßen stehen können. Aber dann müssen wir eben eine langfristige Begleitung organisieren, in denen sich der Einzelne bestmöglich entfalten kann. Es gibt immer Chancen und Möglichkeiten, und die möchte ich mit meinem Team, unseren Partnern in der Stadt und natürlich mit den Bewohnern zusammen erschließen.“
Ihren positiven und wertschätzenden Blick auf Menschen merkt man Jeannette Wedekind deutlich an. Bewohner und Mitarbeitende fühlen sich in Gegenwart der neuen Einrichtungsleiterin dann auch schnell sichtlich wohl. Es werden viele Fragen gestellt, alle unterhalten sich angeregt miteinander. Als Bewohner und Team sich schließlich auf den Weg zurück in die Untere-Masch-Straße machen, strahlt Jeannette Wedekind. „Ich habe ein sehr gutes Gefühl und freue mich riesig auf den Start hier am Neuer Weg“, sagt sie. Damit ist sie nicht allein. „Ich freu mich jetzt richtig auf den Umzug“, meint einer der Bewohner, als er in den Minibus der Heilsarmee steigt. „Und ich würd‘ am liebsten gleich hier bleiben“, antwortet sein Freund. Der Umzugstermin ist zum Glück schon in Sicht: Läuft alles wie geplant, werden die Heilsarmee und ihre Bewohner ab dem 17. Februar am Neuer Weg zu Hause sein.