von Die Heilsarmee in Deutschland

„Ich habe nicht mehr die Lust, besoffen rumzuhängen!“

Seit seiner Kindheit leidet Wolfgang unter Angstzuständen. Der aufgeweckte Mann mit den traurigen Augen erzählt aus seinem Leben und vom fortwährenden Scheitern. Sein Wunsch auf ein eigenes, unabhängiges Leben ist groß. Doch gelungen ist es ihm nie. Jetzt hat er einen Entschluss gefasst. Das William-Booth-Haus der Heilsarmee ist seine vielleicht letzte Chance.

Wolfgang hat sich auf ein Zimmer im William-Booth-Haus der Heilsarmee in Berlin beworben. Der 64-jährige hat schon viele Stationen durchlaufen. Bereits als Kind wurde er oft von der alleinerziehenden Mutter alleine gelassen. Später als Jugendlicher hängt er mit Freunden am Kiosk ab. Sie trinken regelmäßig. Erst Bier, später auch Hochprozentiges, wie Weinbrand oder Wodka-Kirsch.

Mit 16 Jahren beginnt er eine Lehre als Lackierer in einer Kfz-Werkstatt, einem kleinen Familienbetrieb in Berlin-Moabit. Nach Feierabend trifft er sich regelmäßig mit den Freunden auf einen Drink am Kiosk, abends trinken sie in ihrer Stammkneipe weiter. Zuhause, in den eigenen vier Wänden, hält er es nicht lange aus. Er bekommt regelmäßig Angstattacken. Dann greift er wieder zur Flasche. Bald konsumiert er täglich bis zu drei Flaschen Hochprozentiges.

Auf die Dauer ist der Alkoholkonsum kostspielig. In Berlin sind noch englische Besatzungstruppen stationiert. Die Engländer haben eine eigene Fußballmannschaft im Viertel. In deren Vereinsheim ist der Alkohol wesentlich günstiger. Um da heranzukommen, beschließen die Kumpels eine eigene Mannschaft aufzustellen und gegen die Engländer zu spielen. Sie verlieren das Spiel 0:9. Aber das macht nichts, denn jetzt kommen sie an den billig importierten Schnaps.

Die zunehmend katastrophalen Auswirkungen des Suffs

Nach der Lehre fängt Wolfgang als Geselle in der Lackiererei der BMW-Motorenwerke in Berlin Spandau an. Die Arbeit macht ihm Spaß. Doch er trinkt regelmäßig weiter. Nicht nur am Kiosk und nach Feierabend zu Hause. Auch in den Pausen auf der Arbeit nimmt er Alkohol zu sich. Die Kollegen müssen das mitbekommen haben. Doch keiner sagt was. Dann verursacht er auf dem Parkplatz einen Unfall. Die Polizei nimmt ihm den Führerschein ab und er verliert seine Arbeit.

Wolfgang macht eine Therapie im Waldkrankenhaus. Zu seinem Alkoholproblem haben sich auch Magenprobleme eingestellt. Seinen Beruf kann er nicht mehr ausüben. Nach der Therapie bezieht er wieder eine eigene Wohnung in Tegel. Bald stellen sich erneut die bekannten Angstzustände ein. Er hört Stimmen, hat Halluzinationen. Wolfgang greift zur Flasche, wird rückfällig.

Gefangen im Kreislauf der Sucht

Mit Anfang 30 lässt er sich für einen Entzug in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik einweisen. Seine Wohnung in Tegel muss er aufgeben. Anschließend wird er betreut von einem Sozialarbeiter der Pinel-Einrichtung für psychisch Kranke. Der Betreuer ermutigt ihn zum Sport. Langstreckenlauf. Wolfgang trainiert nun täglich und wird immer besser. Der Sport lenkt ihn ab, durch das Laufen fokussiert er seine Motivation. Mehrfach nimmt er an organisierten Stadtläufen über 10 oder 15 Kilometer teil, wie am Kudamm-City Night-Marathon. Doch irgendwann bricht das Konstrukt ein. Er wird schwach, greift zur Flasche und verfällt erneut dem Alkohol.

Wieder einmal muss er seine Wohnung aufgeben, geht in den Entzug mit einer gut einjährigen Therapie im Anschluss. Diesmal im Krankenheim Meinekestraße. Wolfgang hat Glück. Seine Krankengymnastin interessiert sich ernsthaft für ihn, erkennt den guten Kern, wie er sagt, und möchte ihm wirklich helfen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Ihr Mann betreibt eine Kanzlei und braucht jemanden für Botengänge. Wolfgang stellt sich vor und wird eingestellt. Er lebt nun wieder alleine. Viele Jahre geht es gut und der Chef ist zufrieden. Doch irgendwann trinkt Wolfgang wieder. Betäubt das Alleinsein mit Alkohol. Besonders schlimm ist es, wenn er alleine ist und die Angst zurückkommt. Erst manchmal, später immer häufiger, ruft er im Büro an, sagt es gehe ihm nicht gut. Einmal verplappert er sich und seine Verspätungen und Ausfälle haben nun eine Ursache, die der Chef nicht tolerieren kann. Wolfgang wird entlassen.

Der nächste Versuch eines Neuanfangs

In der Sozialberatungsstelle Kaiser Friedrichstraße bekommt er die Adresse vom William-Booth-Haus der Heilsarmee. Dort soll er sich bei dem Sozialarbeiter Stefano Müller melden. Der Betreuer besucht ihn zweimal die Woche und Wolfgang vertraut ihm. Die beiden finden schnell zueinander. Hier fühlt er sich angenommen, wird akzeptiert. Immer wenn er jetzt in Schwierigkeiten steckt, wenn er unter Panikattacken und Angstzuständen leidet, dann kommt er hier für ein bis zwei Wochen im Krisenzimmer unter. Hier ist er für sich, aber nicht alleine. Ein paar Zimmer weiter ist immer ein Betreuer erreichbar.

Heute, mit 64 Jahren hat Wolfgang viele Entgiftungen hinter sich, viele Versuche eines selbständigen Lebens in einer eigenen Wohnung. Er ist müde, verunsichert und der jahrelange Alkoholkonsum und die Tabletten haben ihre Spuren hinterlassen. Wolfgang spürt die gesundheitlichen Einschränkungen. Neben Magenproblemen hat er starke Rückenschmerzen. Das Alleinsein in einer eigenen Wohnung, die Halluzinationen – er hält das nicht mehr aus.

Auf den Sinneswandel folgt die Hoffnung

Wolfgang fasst einen Entschluss. Er möchte im William-Booth-Haus dauerhaft ein Zimmer beziehen und endlich zur Ruhe kommen. „Ich habe nicht mehr die Lust, besoffen rumzuhängen,“ sagt er. Die Mitbewohner der Etage kennt er durch seine früheren Aufenthalte auch schon. „Naja, jeder hat so sein Ding, aber alle sind o.k. Hier kann man auch mal einen Rückfall haben und wird nicht sofort rausgeschmissen, woanders ist das inakzeptabel.“

Er will hier unbedingt einziehen. Das täte ihm gut, meint er. „Hier bin ich ausgeglichener. Die Anderen in der Nähe und so. Ich weiß nicht was heute ist, ich weiß nicht was Morgen ist.“ Auch verträgt er heute nicht mehr viel, wie er sagt. Er versucht das Trinken zu vermeiden. Doch wenn die Angstzustände zu groß werden, greift er schon mal zu Bier oder Wein. Aber Rückfälle sind inzwischen eher die Ausnahme, die trockenen Zeiten werden deutlich länger – ein Resultat auch der engen Begleitung durch die Sozialarbeiter hier.

„Hier bin ich nicht allein“

Am Mittwoch hat er die Bewilligung für sozialpädagogische Wohnhilfe vom Teilhabefachdienst des Sozialamtes erhalten. Wolfgang strahlt. Jetzt kann er den Umzug planen. Das Zimmer 208 ist frei. Ein heller Raum mit Blick auf die herbstlich bunten Ahornbäume in der Nachbarschaft. Eine neue Matratze hat er schon ins Zimmer gebracht. Beim Umzug der Möbel helfen ihm die Mitarbeitenden der Haustechnik in der kommenden Woche. Das ist alles schon besprochen. „Hier bin ich ausgeglichener. Hier bin ich nicht allein. Wenn es so bleibt, bin ich zufrieden.“

Seine einzig verbleibende Sorge ist die krebskranke Mutter. Vor Kurzem im Alter von 86 Jahre ist sie in der Wohnung gestürzt. Im Krankenhaus wurde ein Krebsgeschwür diagnostiziert, irreparabel. Wolfgang macht sich Gedanken. Sie sehen sich selten, aber er telefoniert mehrmals am Tag mit ihr.

Wolfgang hat sich verändert. Jedenfalls scheint es, als ob dies seine vielleicht letzte Chance ist, sein Leben in den Griff zu kriegen – und die will er nutzen.

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