Frauenpower auf St. Pauli
HEIMATHAFEN FÜR GESTRANDETE
Gegenüber dem Sexshop No. 8 und nicht weit von der legendären Kiez-Kneipe „Zur Ritze“ fällt dem Passanten eine rote Leuchtreklame ins Auge: „Jesus lebt“ steht über dem Eingang eines alten Backsteingebäudes. Mitten in St. Pauli, wo Nacht für Nacht das Herz der Reeperbahn pulsiert, ist das Korps Hamburg der Heilsarmee stationiert - seit mehr als 100 Jahren.
Seit 2023 erstrahlt der „Heimathafen Heilsarmee“ im neuen Glanz. Wer das historische Haus in der Talstraße betritt, wird von einem stilvoll renovierten Begegnungscafé überrascht. Der weiße, helle Innenraum mit Tischen und Stühlen lädt zum Verweilen ein. Die große Fensterfront zum Hof spendet viel Licht und im hinteren Teil des Cafés liegt - von einer großen Glastheke getrennt - eine modern ausgestattete Küche. An den Schlafsaal der ehemaligen Herberge aus dem späten 19. Jahrhundert erinnern noch die dekorierten Pfeiler und die Holzdecke.
Doch morgens um 11 Uhr ist die Tür zum Heimathafen noch geschlossen. Mareike Walz, Offizierin der Heilsarmee, hat das Missionsteam im Café versammelt. Es besteht an diesem Tag aus einem Sozialarbeiter, einer Hauswirtschafterin, zwei Praktikantinnen und einem jungen Mann, der seinen Bundesfreiwilligendienst absolviert. Nach einer kurzen Andacht holt die Pastorin den Dienstplan hervor. Wer kümmert sich um die Kleiderkammer? Wer holt die gespendeten Brötchen vom Bäcker ab? Was passiert mit dem Abwasch? Zuletzt noch eine gute Nachricht: Der Mann, der kürzlich mit einem Krankenwagen im Café abgeholt werden musste, hat sich wieder erholt. Mareike Walz hat ihn gerade erst vor dem Supermarkt getroffen. Alle freuen sich. Man achtet aufeinander.
Um kurz nach eins hat sich vor der Theke im Café eine kleine Schlange gebildet. Es gibt Kartoffelsuppe und belegte Brötchen. Eine große Schüssel mit Quarkspeise steht noch in der Küche – der Nachtisch. „120 Mahlzeiten gehen jeden Tag über die Theke“, sagt Ingrid Grandel. Sie trägt - wie alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - eine rote Schürze mit dem Heilsarmee-Logo. Essen und Trinken ist für die Gäste kostenlos. „Die Lebensmittel kommen dienstags von der Tafel, die Brötchen und Brote vom Bäcker in der Nachbarschaft. Ab und an müssen wir etwas dazu kaufen“, ergänzt die Hauswirtschafterin.
Stefan Schroer lässt es sich schmecken. Der Gast trägt ein blaues Sweatshirt mit dem Aufdruck „Die Pfefferkörner“, eine TV-Sendung für Kinder, die in Hamburg gedreht wird. 2022 kam der gelernte Veranstaltungstechniker in den Norden. Keine Arbeit, keine Wohnung, kein Geld. Viele Monate übernachtete er in einem Mehrbettzimmer im Wohnheim. „Ich wollte auf keinen Fall Platte machen“, sagt er. Über einen Sozialarbeiter hat er endlich eine Zweizimmerwohnung bekommen. Und einen kleinen Job hat er jetzt auch: „Ich mache Stadtführungen für die Pfefferkörner-Fans.“
Direkt neben ihm sitzt Barbara Kerrinnis, eine gut gekleidete ältere Dame. „Ich wohne hier oben im Haus“, sagt sie. 15 Wohnungen stehen nach der Renovierung zur Verfügung. Barbara Kerrinnis kommt eigentlich aus Westfalen. Zuletzt hat sie in Hamburg in einer Spielhalle gearbeitet. Sie kommt jeden Tag zum Mittagessen. Und oft hilft sie mit, zum Beispiel beim Gemüseschneiden.
Im Laufe des Tages ändert sich das Publikum. Vielen Gästen, überwiegend obdachlosen Männern, ist die Not anzusehen. Das Übernachten auf der Straße macht mürbe und müde. Während die einen gedankenverloren ins Leere blicken oder ein Nickerchen machen, haben sich Michael Schröer und Danny Bielicki zum Kartenspielen an einen Tisch gesetzt. Die beiden leben vom Flaschensammeln auf St. Pauli. Nachts schlafen sie in Hauseingängen. Sie haben große Pläne, wollen sogar eine Garage fürs Leergut mieten. Mareike Walz hat sich zu ihnen gesetzt und hört zu.
„Hier ist jeder herzlich willkommen, egal wie die Lebensumstände sind“, sagt Anne Beinker, die gemeinsam mit Mareike Walz das Missionsteam leitet. „Wir haben hier keine Agenda, wir wünschen uns, dass unsere Gäste den Heimathafen Heilsarmee als einen sicheren Ort erleben, an dem sie einfach sein dürfen.“ Sie bieten auch Gespräche, Beratung oder Seelsorge an, zwingen die Angebote aber nicht auf. „Wir sind ein offener Raum für gelebte Nächstenliebe“, sagt Beinker. Ein Beispiel für diese offene Form von Mission ist auch ihre Arbeit auf der Reeperbahn. Auf der „sündigsten Meile der Welt“ – eigentlich ist sie nur 930 Meter lang – arbeiten bis zu 400 Prostituierte täglich. Wenn Anne Beinker und Mareike Walz am Mittwochabend losziehen, tragen sie pinke Körbe mit Süßigkeiten und Thermoskannen. „Kakao verbinden viele Menschen mit schönen Kindheitserinnerungen“, erläutert Beinker. „Kakao heißt, jemand denkt an dich. Und ist oft ein willkommener Start in ein Gespräch.“
Doch worüber redet man mit den Frauen? „Wir haben ganz normale Themen, sprechen über Tattoos, das Jobcenter oder die Kinder“, ergänzt sie. Und manchmal geht es auch um den Glauben. „Natürlich beten wir auch für die Frauen. Aber nur, wenn sie das möchten“, betont Beinker. Konflikte mit den Zuhältern gebe es nicht. Es geht darum, Ansprechpartner vor Ort zu sein.
Prostitution, Drogen, Obdachlosigkeit und jede Menge Gewalt: St. Pauli ist für die meisten, die hier leben und arbeiten, ein hartes Pflaster. Trotzdem wachsen hier, wo die Gegensätze so stark sind, Glaube, Liebe und Hoffnung. Um 18 Uhr, wenn das Begegnungscafé seine Pforte schließt, bietet der „Heimathafen Heilsarmee“ eine kleine Andacht für die Gäste an. So mancher bleibt und hört zu. Und am Sonntag findet immer ein Gottesdienst statt.
Walz und Beinker sind sechs Tage der Woche im Einsatz. „Es ist eine Lebensaufgabe, eine Berufung“, sagt Mareike Walz, die zuvor im beschaulichen Naumburg an der Saale eingesetzt war. Besonders wichtig ist den beiden Pastorinnen das Team. Nicht nur zusammen zu arbeiten, sondern auch das Leben zu teilen.
David Hellwig, zum Beispiel, hat sich beim Missionsteam für einen Bundesfreiwilligendienst entschieden. Er arbeitet oft in der Kleiderkammer im Untergeschoss. Nun hat er verlängert. „Ich war früher ein richtiger Misanthrop“, sagt er nachdenklich. Der Freiwilligendienst habe ihm aber die Lebensfreude zurückgegeben, betont er und deutet mit dem Kopf auf die Botschaft am Eingang des Gebäudes: „Jesus lebt“ leuchtet hier Tag und Nacht.
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Mit Kakao und Süßigkeiten unterwegs im Rotlichtmilieu. -
Das historische Backsteingebäude der Heilsarmee in der Talstraße. -
Praktikanten und Ehrenamtler packen bei der Essensausgabe mit an. -
Barbara Kerrinnis wohnt im Haus der Heilsarmee. -
Mareike Walz spricht mit einem Gast über das Flaschensammeln. -
David Hellwig in der Kleiderkammer. Er hat seinen Bundesfreiwilligendienst verlängert.