von Geistliches Leben

Der Muskel der Vergebung

Es ist eine der schrecklichsten Situationen, in denen ich mich befinden könnte: Ich stelle mir vor, dass ich etwas getan habe, das jemandem sehr geschadet hat. Dann erkenne ich meine Schuld und gehe auf die Person zu, um sie um Vergebung zu bitten – doch sie vergibt mir nicht. Da stehe ich dann mit meiner Sündenerkenntnis, mit Reue und Selbstverurteilung, bin aber immer noch an die Last meiner Schuld gekettet. Nur die geschädigte Person hat die Macht, mich freizusetzen, indem sie sagt: „Ich vergebe dir.“

Das ist ein Schreckensszenario. Judas hat so etwas erlebt. Matthäus schreibt in seinem Evangelium (27,3), dass sein Jünger-Kollege Reue empfand und die dreißig Silberstücke zurückgeben wollte, als er sah, dass Jesus verurteilt worden war. Judas hatte eigentlich nicht gewollt, dass Jesus zum Tod verurteilt würde. Doch dann konnte er den Verlauf der Ereignisse nicht mehr ändern. Er fand nicht einmal die Gelegenheit, die Petrus später hatte – nämlich zu Jesus zu gehen und um Vergebung zu bitten. In seiner Verzweiflung nahm sich Judas das Leben. Das ist so tragisch.

Es zeigt deutlich, welche Verzweiflung Menschen ergreift, wenn sie überzeugt sind, dass es für sie keine Vergebung gibt. Ich glaube, wir sollten das, was Jesus über die Bitte um Vergebung lehrt, im Licht dessen sehen, wie zerstörerisch es ist, Gott als einen strengen Richter zu betrachten. Die damaligen Vorbilder in puncto Rechtschaffenheit waren nicht immer hilfreich. Nur wenige gewöhnliche Leute konnten sich mit dem scheinbar vollkommenen Verhalten der religiösen Eliten identifizieren, die gesehen und für ihre Frömmigkeit bewundert werden wollten. Wenn wir uns Gott mit der Auffassung nähern, dass er uns mit anderen vergleicht und unsere Schwächen verurteilt, dann bleiben wir ihm lieber fern, als unsere Seele auch noch mit seiner Missbilligung zu belasten.

Ein Vater mit offenen Armen

Jesus befreit mich nicht von der Notwendigkeit, meine Sünden zu bekennen. Doch er sagte den Menschen oft, dass sie sich darauf verlassen können, dass der heilige Gott ihnen liebevoll zuhört, wenn sie sich im Gebet an ihn wenden. Er sagt, dass wir Gott „Papa“ nennen dürfen und dass sein Vater mehr noch als menschliche Eltern bereit ist, uns gute Gaben zu geben, wenn wir zu ihm kommen und ihn darum bitten. Seine Geschichten zeigen Gott deutlich als einen Vater mit offenen Armen, der schlechtes Benehmen vergibt, wenn wir zur Vernunft kommen, unsere Schuld bekennen und zu ihm umkehren.

Wenn ich Gott regelmäßig im Gebet um Vergebung bitte, erhält mich das geistlich gesund. Vergebung ist wie ein Muskel, der durch Auf- und Abbewegen trainiert werden muss. So, wie ich mich nach Gott ausgestreckt und Vergebung empfangen habe, soll ich selbst auch anderen die Hand reichen und ihnen vergeben.

Meine Fähigkeit, mich mit Erfahrungen oder mit Menschen zu versöhnen, erlahmt, wenn ich diesen Muskel der Vergebung nicht in Form halte. In dieser Welt wird immer mehr geurteilt. Inzwischen ist es fast normal, Menschen über die sozialen Medien zu beschämen und zu beschuldigen. Jesus ruft uns auf, anders zu leben. Wenn man anderen nicht vergibt, hält man sie quasi als Geiseln in den Taten der Vergangenheit fest; eine Situation, die bei ihnen zu aggressivem Verhalten führen kann.

Gott sei Dank, dass er die Tür zur Freiheit in Jesus geöffnet hat, der Freiheit, Vergebung zu empfangen und anderen zu vergeben.

 

Kommandeurin Marie Willermark
ehem. Leiterin der Heilsarmee in Deutschland, Litauen und Polen

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