von THQ

Bedingungslose Liebe leben

Wie Barmherzigkeit im Rotlichtmilieu aussehen kann

Die Heilsarmee unterwegs im Rotlichtbezirk: Durch wertschätzende Worte, aufrichtiges Interesse und liebevolle Aufmerksamkeiten bringen Mitarbeiterinnen der Heilsarmee Frauen in Prostitution Liebe entgegen. Foto: Martin Heimann

Als Offizierin der Heilsarmee bin ich eine Pastorin der besonderen Art: Ich wähle meine Gemeinde nicht und meine Gemeinde wählt mich nicht. Ich werde hingegen vom Leitungsteam der Heilsarmee zu einer Gemeinde und einer Nachbarschaft berufen. Dies geschieht in der Zuversicht, dass Gott mich dort haben und gebrauchen möchte.

Da die Heilsarmee Hannover sich am Rand des Rotlichtmilieus der Stadt befindet und ich dort lebe und arbeite, könnte man fast sagen, dass Prostituierte meine Nachbarinnen sind. Nur: Ich sehe sie gar nicht so. Was ich sehe ist, dass wir alle mit einem Akzent deutsch sprechen, dass wir manchmal genau die gleiche Nagellackfarbe tragen, dass wir uns vor den selben dunklen Ecken oder schlecht beleuchteten Straßen fürchten, dass wir gerne zusammen essen und unendlich lange miteinander plaudern könnten. Ich sehe Frauen, manche ein wenig jünger, andere ein wenig älter als ich. Was uns unterscheidet, sind die Chancen, die uns gegeben oder nicht gegeben wurden, seitdem wir Mädchen waren: Mir stand die Welt offen; sie hingegen wurden zu diesem Leben in dieser Nachbarschaft gezwungen. Das ist meiner Meinung nach der erste Eckpunkt der Barmherzigkeit unter Prostituierten: zu erkennen, dass sie zuerst nicht Prostituierte, sondern Frauen sind, die unsere Anerkennung, unseren Respekt, unsere Liebe und Barmherzigkeit brauchen, so wie alle unsere Mitmenschen.

Gelebte Barmherzigkeit

Barmherzig zu leben bedeutet somit, einander auf Augenhöhe zu begegnen und einander zu lieben. Dies bringt uns zum zweiten Eckpunkt der Barmherzigkeit: zu erkennen, dass wir das nur können, wenn wir selbst Gottes Liebe und Barmherzigkeit annehmen. Wir können lieben, weil er uns zuerst geliebt hat (1 Joh 4,19), und wir können Barmherzigkeit zeigen, weil er uns zuerst Barmherzigkeit gezeigt hat (Lk 6,36). Da wir nun lieben und barmherzig sein können, sind wir auch berufen, es mit Gottes Hilfe auszuleben – ob unter den Menschen, die im Rotlichtmilieu leben, oder an all den anderen Orten, an denen wir leben, arbeiten und unsere Zeit verbringen.

Wie sieht das konkret in meiner Nachbarschaft aus? Barmherzigkeit nimmt die Form von Besuchen an. In diesen Begegnungen lernen wir uns kennen, achten und verstehen. Wir teilen unsere Sorgen und Wünsche. Wir zeigen Verständnis füreinander und Respekt.

Dabei befolgen mein Team und ich die einfachen Grundsätze, die Jesus seinen Jüngern in Lukas 10 gibt:

  1. Segnet die Häuser, die ihr betretet (Lk 10,5).
  2. Habt (Tisch-)Gemeinschaft mit den Menschen, denen ihr begegnet (Lk 10,8).
  3. Begegnet ihren Nöten (Lk 10,9) und
  4. teilt die frohe Botschaft mit ihnen (Lk 10,9).

Wenn Vorurteile weichen, entstehen Beziehungen

Jede Woche klopfen wir an die Türen von Frauen oder Familien, mit denen wir nun eine Beziehung, oft auch eine Freundschaft, haben. Diese konnte nur entstehen, weil wir vorurteilsfrei und ohne zu richten in die Wohnungen eingetreten und deren Bewohnern begegnet sind. Unser Ziel war von Anfang an, sie zu segnen, sie mit Würde zu behandeln, ihnen Barmherzigkeit zu zeigen. Das Misstrauen ihrerseits verschwand sehr schnell, als sie merkten, dass wir nicht da waren, um sie zu kontrollieren, um ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen oder sie zu überreden, etwas zu tun, wozu sie nicht bereit waren. Wir kamen in Freundschaft, wir kamen mit dem Ziel, Segen über sie auszusprechen.

Vor der Pandemie war ein wichtiger Aspekt des Besuchs, an einem Tisch zu sitzen und zusammen Kaffee zu trinken. Wie oft wurde ich danach gebeten, zum Abendessen zu bleiben; wie oft wurde eine Köstlichkeit mit mir geteilt. Ihre Gastfreundschaft anzunehmen, Zeit mit ihnen zu verbringen, Gemeinschaft mit ihnen zu haben, ihre Geschichten zu hören und meine mit ihnen zu teilen, führte dazu, dass wir sehr schnell von Fremden zu Freunden wurden und vom Plaudern zu ernsteren, ehrlicheren Gesprächen wechselten.

Eine Zeitlang verbrachte ich täglich mehrere Stunden in diesen Wohnblöcken, wo ich langsam mehr und mehr Leute kennenlernte und in mehr und mehr Wohnungen hineingebeten wurde. Mit der Zeit wurden manche Vorurteile, die ich über das Leben im Rotlichtmilieu hatte, bestätigt, andere widerlegt. Manches hatte ich geahnt, anderes war für mich überraschend:
Dass ganze Familien in kleinen Wohnungen im Rotlichtmilieu leben, hätte ich nie gedacht. Dass der Ausstieg aus der Prostitution hart ist, hatte ich geahnt, die Ängste, Hürden, Zweifel, Vorurteile den Frauen gegenüber so nah mitzuerleben bekräftigte dieses Gefühl nur. Dass (fast) keine Frau diese „Arbeit“ freiwillig macht, wusste ich und es wurde immer wieder von den Frauen bestätigt – wenn man keine anderen Optionen hat, kann man wirklich von Freiwilligkeit sprechen? Durch Gemeinschaft und Gespräche, durch die Beziehungen, die zu Freundschaften wurden, verstand ich, welcher Nöte ich mich annehmen musste, was Priorität hatte, bei welchen Nöten sie nur ermutigende Worte brauchten und bei welchen ich mitanpacken sollte und durfte.

Ich hatte und habe weder die Antwort auf all ihre Fragen noch die Lösung auf all ihre Probleme, aber den Frauen und Familien ist klargeworden, dass sie bei mir immer ein offenes Ohr finden, ein ermutigendes Wort und Unterstützung. Sie wissen, dass ich mein Wort halten werde und dass ich ihre Geheimnisse, Träume und Sehnsüchte bewahre und sie mir vertrauen können.

„Kannst du unsere Pastorin sein?“

Obwohl ich beim ersten Besuch nicht mit meiner Bibel auftauchte und nicht mit dem Ziel kam, mit ihnen zu beten oder zu predigen, kam von ihnen sehr schnell die Frage: Wenn du eine Pastorin bist, kannst du nicht auch unsere Pastorin sein? Ihr Wunsch war, gemeinsam zu beten, die Bibel zu lesen, Gottesdienst zu feiern, nicht nur miteinander Gemeinschaft zu haben, sondern auch mit Gott. Zu den Gottesdiensten kamen bald auch weitere Nachbarinnen, manche Männer und Familienmitglieder. In diesen Gottesdiensten erlebten wir Wunder, Heilung und Veränderung: Männer, die nichts von Gott wissen wollten, fingen an die Gottesdienste zu besuchen, OPs wurden wieder abgesagt, weil Zysten und Tumore verschwanden, Arbeitsplätze wurden gefunden, Gebete wurden erhört und Herzen wurden verändert.

Ich finde es immer wieder unfassbar, zu was einfache Besuche geführt haben, wie weit ein wenig Barmherzigkeit uns gebracht hat. Das ist der dritte Eckpunkt der Barmherzigkeit für mich: Sie kann nicht ohne Beziehungen stattfinden: Wir brauchen Beziehung zu Gott, um seine Barmherzigkeit zu erfahren, und wir brauchen Beziehungen untereinander, um Barmherzigkeit zu leben. Wichtig ist auch, dass die Beziehung bedingungslos ist und nicht von Umständen abhängig, beispielsweise wie diese Frauen ihr Geld verdienen, oder mit wem sie sonst ihre Zeit verbringen.

Ich bin überzeugt, dass diese Eckpunkte der Barmherzigkeit nicht nur im Rotlichtmilieu viel Frucht bringen können, sondern überall, wo Menschen einander begegnen. Und so träume ich von bunt gedeckten Tischen, mit Speisen aus aller Welt, mit Gesprächen in allen Sprachen, wo alle willkommen sind und wo Barmherzigkeit herrscht.

Wenn das nicht nach Himmel auf Erden klingt?!


Christine Tursi, 34

Pastorin/Leiterin der Heilsarmee Hannover

Ursprünglich aus Italien, lebt seit fast 3 Jahren in Hannover, wo sie ihre erste Gemeinde leitet. Ihr Herz brennt für Menschen, Pionierarbeit und Gottes Reich auf Erden.

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